Wesen aus Stein



Isanka's Märchen

Es war einmal ein Junge namens Tom, der lebte in einem kleinen Häuschen nahe am Waldesrand. Es war schon alt und der Garten bewachsen mit allerlei Büschen und Sträuchern. Auch viele Bäume standen da und Tom verbrachte seine Freizeit fast immer in diesem Gärtchen. Es war so ruhig da und es kam ihm oft so vor, als würden die Bäume ihn rufen. Als würden die Blätter flüstern: "Sanftes Kind, spür den Wind...".
Es gab dort einen Kastanien- und einen Haselnußbaum, eine Buche und eine Eiche und im Herbst sammelte er alles auf, was er auf dem Boden fand. So hatte er auch an diesem Tag sein Körbchen in der Hand und lief mit gesenkten Kopf und suchendem Blick im Gärtchen umher und stolperte dabei fast über einen Pilz.

"Ups!" rief er verwundert, als er den tiefroten Pilz mit den kleinen weißen Punkten betrachtete. Er war wunderschön und Tom überlegte sich, ob er ihn nicht auch in sein Körbchen packen sollte. Als er sich hinunterbeugte und ihn näher betrachtete, sah er, daß bereits ein kleines Stück des Pilzes abgebrochen war und nun von einer Schnecke gefreßen wurde. Die Schnecke mampfte behaglich am Pilz und ließ sich nicht weiter stören.
"Du bist wirklich ein schöner Pilz," sagte Tom, "ich werde dich mitnehmen und meiner Mutter zeigen!" Gerade wollte er seine Hand außtrecken um ihn herauszureißen, als ihm eine Kastanie auf den Kopf fiel.

"Aua!" schrie Tom und sah nach oben. "Wirst du wohl den Pilz in Ruhe laßen!" und schon flatterte ein kleines flinkes Wesen vor seiner Nase herum. Tom rieb sich erstaunt den Kopf. "Wer bist du?" fragte er. "Ich bin Minchen, die Kastanienelfe." Minchen landete mitten auf dem Pilz. "Laß den Pilz zufrieden! Du kannst ihn sowieso nicht eßen. Menschen vertragen ihn nicht!" Tom konnte immer noch nicht so recht glauben, was er da sah. "Was ist eine Elfe?" fragte er. "Elfen," erwiderte Minchen, "sind Wesen aus dem Zwischenreich. Sie kümmern sich um die Pflanzen und das Kleingetier und sorgen dafür, daß sie genügend Liebe abbekommen. Wir unterhalten sie auch mit unserem Gesang."

Tom streckte neugierig seinen Finger nach der Elfe aus und sie wich spontan zurück. "Was ist das Zwischenreich?" fragte Tom. Minchen flog flink außer Reichweite, als Tom nach ihr schnappte. "Das Zwischenreich ist eine Welt, die Menschen nicht sehen können. Das heißt, sie könnten schon, du kannst es ja auch, aber sie wollen es nicht. Sie sind zu festgefahren." Tom sah sie fragend an: "Warum wollen sie nicht?" Minchen zuckte mit den Schultern, "keine Ahnung. Sie glauben mehr ihren Augen, als ihrer inneren Stimme. Und sie haben keine Lust, sich selbst kennenzulernen."

"Minchen! Minchen!" hörte Tom plötzlich noch ein anderes Stimmchen; und da tauchte auch schon eine zweite Elfe auf. Ganz außer sich flatterte sie um Minchen herum. "Was ist los, Coriy?" Coriy, die Haselnußelfe, flüsterte aufgeregt etwas in Minchens Ohr. "OH!" schrie Minchen laut auf und flog mit Coriy davon.

"Elfe," schrie Tom ihr hinterher, "wo fliegst du hin?" Er konnten nur noch beobachten, wie beide in einem Hagebuttenstrauch verschwanden. Neugierig folgte er ihnen und sah sich suchend in dem Geäst um. Er hörte leises Stimmengewirr und als sich seine Augen an das dichte Buschwerk gewöhnt hatten, sah er inmitten des Gestrüpps eine kleine Gruppe Elfen.

"Es ist wirklich schrecklich!" sagte Rosalie, die Hagebuttenelfe. Sie bewohnte diesen Strauch und alle hatten sie aufgesucht, um die Botschaft zu hören. Ihre Wangen waren vor Aufregung ganz rot geworden und ihr langes, schwarzes Elfenhaar, das sonst so wunderschön in der Sonne glänzte, war ganz durcheinander. "Ted, der Frosch, hat es mir erzählt. Er sagte, er hätte den ganzen Wald abgesucht, aber niemanden gefunden. Keine einzige Fee, keinen Kobold, keinen Gnom und auch keinen Zwerg. Als wäre der Wald erfroren. Ted sagte, es wäre ein Zauber. Eine Hexe hätte sich mit der Waldfee Sorija gestritten und alle Naturgeister des Waldes mit einem Zauberbann belegt." Sie begann herzzerreißend zu schluchzen. "Meine Güte!" sagte Lia, die Schmerwurzelfe, entsetzt und schüttelte ungläubig den Kopf, "was machen wir jetzt bloß?" Alba, die Zaunrübenelfe, nahm Rosalie tröstend in den Arm und strich ihr über ihr Haar. "Wir müßen was unternehmen!" sagte sie. "Vielleicht sollten wir nochmal mit Ted reden."

"Wie läßt sich denn der Zauber brechen?" fragte Joey, der mit seinen Füßen an einer Hagebutte hing und den Kopf nach unten baumeln ließ. "Joey!!" rief der Nachtschattenelf Nachtfloh empört, als er Joey's übermütiges Verhalten beobachtete. "Sag mal, stört dich gar nicht, was Rosalie berichtet?" Joey grinste. "Nun hab dich nicht so," sagte er, während er seelenruhig weiterschaukelte, "verzaubert bleibt verzaubert, selbst wenn ich aufgeregt zu kreischen anfangen würde!" Röschen, die Heckenrosenelfe, die sich mit Joey sehr verbunden fühlte, stimmte ihm zu: "Joey hat völlig recht, es ist wie es ist! Die Hagebutte fällt auch nicht vom Busch, bloß weil die Elfe sich ärgert, daß es doch nun an der Zeit wäre." - "So kommen wir nicht weiter!" unterbrach Ebaja, die Ebereschenelfe, die drei. "Es ist Zeit zu handeln!"

Tom nahm plötzlich seinen ganzen Mut zusammen und sprach das Elfenvolk an: "Vielleicht kann ich euch helfen." Die Elfen zuckten zusammen und flogen wie der Blitz in alle Richtungen davon. "So fliegt doch nicht weg..." spontan lief er paar Schritte rückwärts und setzte sich auf den Boden. Sogleich näherten sich die Elfen wieder und flogen neugierig um ihn herum. "Würdest du das wirklich tun?" fragte Minchen, die schon ein bißchen Vertrauen zu dem Menschenkind gefaßt hatte. Tom nickte stumm. "Das wäre vielleicht unsere Rettung." sagte Admiral, der Asterelf, engster Freund von Minchen. Die Schneeballelfe Flöckchen, Liebling der Libellen, flog vertrauenßelig direkt zu Tom und setzte sich auf seinen Handrücken. "Es wird nicht einfach werden," erklärte sie Tom, der es nicht mehr wagte, seine Hand zu bewegen, "sicher mußt du sehr mutig sein." Schon kam eine Libelle angeflogen und setzte sich di rekt neben Flöckchen auf Toms Hand. Die Elfe begrüßte sie erfreut.

"Rosalie?" rief Haga, die Holzapfelelfe, "Kannst du nicht Ted bitten, hierher zu kommen? Du weißt doch, wo er gerade zu finden ist." Rosalie saß neben Admiral in einer Asterblüte und nickte zustimmend. "Ich werde dich auch begleiten." Haga war ein reizendes kleines Elfchen. Ständig um ihre Brüder und Schwestern besorgt und immer bereit, alles zu geben. Ihr Haar glänzte wie Gold und ihre Stimme klang so süß, wie die hellen Klänge einer Triangel. "Buggi," sie wendete sich an ein ganz kleines Elfchen, das neben ihr im Gras saß, "du bleibst solange bei Holly. Ich werde gleich wieder da sein!"

Buggi, war das Buchenelfchen. Er war noch ganz jung und Haga war ständig an seiner Seite. Sie brachte ihm seine Aufgaben bei und ermahnte ihn, wenn er mal zu übermütig wurde und wie wild mit den Kernen der Buchen um sich warf. Buggi grinste, denn er wußte, daß Holly nicht so achtsam war, wie Haga. Sie war eine verträumte Elfe, die ständig ihren Phantasien nachhing. Bei ihr konnte er seinen Schabernack ungestört treiben. Haga und Rosalie trafen sich zuzwinkernd in der Luft und flogen davon.

"Was ist das für eine Hexe?" fragte Tom. "Davon gibt es hier nicht viele." sagte Gucci, der Ligusterelf. "Gewöhnlich nehmen Hexen meinen Liguster zum Färben ihrer Kleider und Brauen ihrer giftigen Hexengebräue. Aber es ist lange her, als ich zum letzten Mal eine Hexe Liguster pflücken sah." Rosinchen, die Elfe des roten Hartriegels stimmte Gucci zu. "Ja," sagte sie, "meine Hartriegelzweige holen sich die Hexen, um daraus giftige Pfeile zu machen. Aber ich hab auch schon lange keine mehr gesehen." Nun meldete sich die kleine Brombeerelfe Mona zu Wort. Schüchtern kam sie angeflogen und setzte sich zu Buggi ins Gras. Sie war sehr scheu und hielt sich meistens im Hintergrund. "Meine Freundinnen, die Brombeerelfen aus dem Wald haben mir erzählt, daß manchmal eine Hexe in den Wald kommt, um Farne zu sammeln. Aber..." Mona schluchzte betrübt, "jetzt können wir sie ja nicht mehr fragen."

"Quak!" machte es plötzlich und das Unterholz knackte. "Du mußt genau hingucken," sagte Ibu, der Eichenelf, zu Tom, "der Frosch ist ein Meister der Tarnung!" Tom sah angestrengt nach unten und hielt nach einem grünen Fleck Außchau. Doch er konnte keinen Frosch sehen, nur sein Gequake hören, das immer lauter wurde. Rosalie und Haga flogen so geschwind wie Irrlichter über Toms Kopf hin und her und freuten sich, Ted vorstellen zu können. Tom konnte immer noch keinen Frosch im Gras entdecken. Ibu lachte. "Menschen!" Er flog von seinem Baum herunter und setzte sich direkt auf Teds Rücken. Dann winkte er Tom eifrig zu. "Too-hom, hier bin ich!" Er fuchtelte mit seinen winzigen ärmchen. Und erst als Tom Ibu entdeckte, bemerkte er auch etwas Lebendiges unter ihm. Tatsächlich, da war ein Frosch! Er hatte sich so gut angepaßt, daß man ihn auf den ersten Blick nicht wahrnahm. Er war so hellbraun, wie das Unte rholz, das ihn umgab.

Tom kniete sich ins Gras und lächelte den Frosch an. "Hallo, Ted," sagte er und Ted nickte ihm quakend zu. "Du bist aber ein hübscher Frosch!" stellte Tom fest und Ted zeigte ihm stolz sein breitestes Grinsen. "Ted kann uns helfen," erklärte Rosalie, "er hat die Hexe beobachtet, als sie den Wald verzauberte. Er weiß, was zu tun ist - dem Himmel sei Dank!" Ted nickte. Dann hüpfte er zu dem Fliegenpilz und machte es sich neben der Schnecke bequem. "Kommt alle her zu mir!" quakte er und die Elfenschar versammelte sich um ihn, auch Tom näherte sich etwas. Ted beobachtete geduldig, wie sich alle Elfen erwartungsvoll um ihn plazierten und begann dann, zu ihnen zu sprechen:

"Meine lieben Freunde, diese Hexe ist böse und schon seit einiger Zeit belästigte sie die Feen im Wald. Sie sammelte das kostbare Feengras, um sich damit ihr Schloß zu verschönern. Soweit ich weiß, gibt es einen Zauber, der Stein verändern kann. Das Schloß, indem die Hexe lebt, wurde aus Sandstein gebaut. Sandstein ist weich und nachgiebig. Es bröckelt leicht und ist nicht besonders schön. Die Hexe will aber ein Schloß aus Marmor haben - ein prächtiges, festes Gestein. Also verwandelt sie den Sandstein nach und nach in Marmor. Und für diesen Zauber benötigt sie das Feengras. Im Wald gibt es nur einen Hügel, auf dem dieses Feengras wächst und die Feen brauchen es für ihre Flügel. Sie benetzen sie mit dem Tau des Grases, um fliegen zu können. Dadurch werden die Flügel ganz zart und weich und je gepfegter sie sind, desto flinker und höher können sie fliegen."

Tom und die Elfen lauschten beeindruckt dem Frosch und freuten sich, daß der Frosch ihnen so viel darüber erzählen konnte. "Doch weil die Hexe immer mehr und mehr von dem Gras raubte, wurde der Vorrat beängstigend klein und eines Tages wagte sich die Waldfee Sorija, sich ihr entgegenzustellen, um sie von ihrem bösen Treiben abzuhalten. Sie versuchte mittels ihren Zauberkräften, die Hexe zu vertreiben und auch die anderen Feen bemühten sich sogleich, sie zu unterstützen. Doch gegen die Macht der Hexe waren sie zu schwach. Aus einem Versteck sah ich, wie sich ein grauer Nebel plötzlich im ganzen Wald ausbreitete und sich langsam auf alles niederlegte. Die Hexe lachte laut und böse und schrie noch, während sie selbst im Nebel verschwand:

"Kobolde, Gnome, Zwerge und Feen
Ihr habt zu lange die Sonne gesehen
Geister des Waldes, nun ist es geschehen
Der Nebel des Schattens wird um euch wehen
Erstarren werdet ihr in eurer Pein
Verharren werdet ihr - Wesen aus Stein"

"Meine Güte!" schrie Holly entsetzt, "was hat das zu bedeuten?" Alle sahen den Frosch erschrocken an. "Keiner von euch Naturgeistern kann mehr den Wald betreten, ohne selbst mit dem Zauber belegt zu werden. Ich hab schon einige Elfen gesehen, die arglos in den Wald geflogen kamen und sich, wie alle anderen Wesen ihrer Art, in diesem Nebel auflösten. Ich bin ein Tier, bei mir funktioniert der Zauber nicht und auch nicht bei Menschen." Alle Elfenaugenpaare richteten sich automatisch auf Tom. "Zum Glück haben wir dich auf der Wiese am Waldrand gefunden. Du hast uns das Leben gerettet, Ted!" stellte Rosalie erleichtert fest. "Ich war auf dem Weg zu euch. Unsere Wege hätten sich früher oder später gekreuzt. Soweit ich weiß, läßt euch der Zauber zu Stein erstarren. Ich frage mich allerdings, warum sich im Wald keine solchen versteinerten Wesen befinden. Es ist dort wie leergefegt."

"Du mußt uns helfen, Tom!" rief Minchen verzweifelt. "Wenn wir es nicht tun können, dann mußt du es tun - du bist ein Menschenkind!" Tom sah die flehenden Blicke auf sich ruhen und wandte sich fragend an Ted. Ted quakte ruhig und bedächtig. "Was also muß ich tun, Ted?" Der Frosch schien zu überlegen. Dann hüpfte er zu Tom und betrachtete ihn forschend mit seinen großen Froschaugen. "Es ist ein weiter Weg, Tom, und du wirst ihn alleine gehen müßen. überlege dir gut, ob du das tun willst." Tom zögerte. Was würden seine Eltern sagen? Konnte er einfach so weggehen? Und was, wenn er sich verirren würde? "Was ist, wenn ich mich verirre und nicht mehr zurückfinde?" Nun schien auch der Frosch hilflos zu sein. "Das könnte paßieren." gab er zu. Toms Abenteuerlust schwand mehr und mehr.

"Es gibt noch einen anderen Weg." Joey war zwar ein übermütiger Elf, aber er war auch sehr weise. Tom wandte sich ihm gespannt zu. "Geh den Weg im Schlaf!" Tom stutzte. Er verstand kein Wort. Auch der Frosch schien ihn nicht zu verstehen, doch die Gesichter der Elfen erhellten sich zusehens. "Ja, er hat recht", stimmte Minchen ihm zu, "wir lenken deinen Traum und du erlöst die Waldgeister in körperloser Form!" Tom hatte nicht die geringste Ahnung, was sie damit meinten. "Wir sind Energiewesen, Tom, auch du! Wenn du schläfst, verläßt deine Seele deinen Körper und reist dorthin, wo sie sich entspannen kann. Den ganzen Tag in deinem Körper bleiben zu müßen, fällt der Seele sehr schwer, denn sie ist so frei und unbegrenzt wie wir. Also wartet sie, bis der Körper in Schlaf gesunken ist und dann schwebt sie davon. Der Körper kann sich erholen und die Seele auch."

Tom konnte kaum glauben, was er da hörte. "Was ist eine Seele?" fragte er neugierig. Nun ergriff Joey das Wort: "Es gibt Dinge, die du nicht sehen kannst und trotzdem sind sie da, wie die Luft zum Beispiel. Auch uns Elfen kann nicht jeder sehen. Bei der Seele ist es genauso. Deine Mama, dein Papa, deine Oma und dein Opa und alle anderen Menschen haben solch eine Seele auch, ebenso wie die Tiere eine Seele besitzen und jede Pflanze und jeder Stein. Alles lebt und alles besitzt eine Seele. Und weil jede Seele aus demselben Stoff ist, sind alle Seelen miteinander verwoben, sie gehören zusammen. Auch wenn du denkst, daß die Seelen viele Seelen sind, sind sie zusammengenommen doch nur eine. Verstehst du das?" Joey lächelte zufrieden über diese Erkenntnis. "ääh.." Tom war sichtlich überfordert. "Möchtest du, daß wir dir den Weg im Schlaf zeigen?" Ted nickte ihm aufmunternd zu. Verwirrt sah Tom von einer Elfe zur an deren. "Na gut." willigte er schließlich ein.

Die Elfen klatschten erfreut in die Hände und tanzten über seinem Kopf in der Luft. "Du wirst es schaffen, wenn du genau das tust, was ich dir jetzt sage!" Die Elfen verstummten sogleich wieder und versammelten sich erneut um den Frosch. "Ich weiß, daß es einen Zauber gibt, der die Waldgeister wieder von ihrem Bann befreit. Leider weiß ich nicht, woraus er sich zusammensetzt." Ein beunruhigtes Tuscheln war zu hören. "Aber ich kenne jemanden, der es dir sagen kann. Und er wird dir auch sagen können, wo du die versteinerten Wesen finden kannst." Tom atmete erleichtert auf. "Bist du also auf dem Weg, dann tue folgendes..."

Ted sah Tom mit seinen Froschaugen ernst an. "Gehe am Waldrand entlang, bis du eine breite Steintreppe findest. Dort steige hinauf. Oben wirst du einen Höhleneingang finden. Gehe hinein und rufe laut nach dem Kobold Zappelzeh. Er wird dir weiterhelfen."

Quakend signalisierte er, daß er am Ende seiner Erklärungen angekommen war und sich nun wieder auf den Rückweg in den Wald machen würde. Die Elfen bedankten sich überschwenglich bei ihm und ein paar von ihnen begleiteten ihn noch ein Stück des Weges. "Vielen Dank, Ted!" rief Tom ihn noch hinterher, als er in Richtung Wald hüpfte. "Ich werde alles genauso machen, wie du es gesagt hast!" Und dann wandte er sich wieder an Minchen, die immer noch direkt neben ihm verweilte. "Wie geht es nun weiter?" - "Ganz einfach!" erwiderte sie. "Geh schlafen, den Rest machen wir!"

Der Abend dämmerte und es war tatsächlich Zeit ins Haus zu gehen.

Insgeheim freute sich Tom schon auf sein Bett. Was würde ihn im Traum erwarten? Sollten die Elfen Recht behalten? Würde er die Waldgeister von dem Zauber befreien können? Er aß hastig sein Abendbrot auf und hatte sich blitzschnell seinen Schlafanzug angezogen. Die Zähne wurden heute im Eiltempo geputzt und bevor sich seine Mutter versah, war er schon im Bett gelandet.

Sie lächelte ihn liebevoll an, als er sich zudeckte. "Was ist denn heute bloß los mit dir? Du kannst es ja kaum erwarten, ins Bett zu kommen." Tom war voller Vorfreude: "Ich muß heute Nacht was ganz Wichtiges träumen!" erklärte er. Seine Mama sah in erstaunt an. "Was denn?" fragte sie neugierig. "Ich muß die Waldgeister retten!" - "Die Waldgeister?" fragte seine Mutter verdutzt. "Ja," rief Tom aufgeregt, "sie sind von einer bösen Hexe verzaubert worden und ich muß sie retten!!"

Seine Mutter war eine sehr einfühlsame Frau und sie nahm ihr Kind immer ernst, weil sie wußte, daß die kindliche Seele ihr vieles voraus hatte. "Wer hat dir davon erzählt?" fragte sie ihn. "Das waren die Elfen aus dem Garten!" Seine Mutter staunte. "Konntest du sie sehen?" Tom nickte heftig: "Ja, es waren ganz viele. Sie waren ganz klein und hatten Flügel." - "Wie willst du denn die Waldgeister befreien?" fragte seine Mutter abermals. "Das weiß ich noch nicht genau. Die Elfen sagten mir, daß sie kommen werden, um meinen Traum zu lenken und der Frosch hat mir erzählt, daß mir ein Kobold weiterhelfen würde."

"Mein Schatz," seine Mutter beugte sich über ihn und küßte sanft seine Stirn, "sicher haben dir die Elfen erzählt, woher sie kommen..." - "Ja!" "Ja, sie kommen aus dem Zwischenreich!" fiel ihr Tom gleich ins Wort. "Genau!" stimmte seine Mutter zu. "In diesem Zwischenreich aber, leben noch viele andere Wesen, nicht nur Elfen. Es leben dort auch Engel und auch deiner lebt dort." - "Meiner???" fragte Tom erstaunt. Seine Mutter nickte lächelnd. "Jedes Mal, wenn ein kleines Baby auf die Welt kommt, bringt es seinen Engel mit. Dieser Engel behütet das Menschenkind während seines ganzen Lebens auf der Erde. Er ist immer da, bereit zu helfen, wenn man ihn darum bittet."

"Aber...," Tom konnte es kaum glauben, "warum habe ich ihn noch nie gesehen?" - "Möchtest du das denn?" - "Ja, natürlich!!" rief Tom sofort. "Dann mußt du ihn darum bitten. Sprich ein Gebet, indem du deinen Engel bittest, sich dir zu zeigen und er wird sich bemerkbar machen. Vielleicht entscheidet er sich nicht sofort dafür, sich dir zu zeigen, doch du wirst ihn spüren und auch hören. Wenn du deine innere Stimme hörst, dann hörst du deinen Engel." - "Ja, die innere Stimme..." erinnerte sich Tom sogleich, "davon haben die Elfen auch gesprochen." - "Wahrscheinlich," fuhr seine Mutter fort, "werden sich die Elfen nun im Zwischenreich mit deinem Engel treffen und ihm von der Geschichte mit der Hexe erzählen. Und jedes Mal, wenn du nicht weiter weißt auf deinem Weg, bitte deine innere Stimme um Rat." Tom strahlte und nickte: "Ja, Mama, so werde ich es machen!& quot;

Nicht lange nach diesem Gespräch, fiel Tom in einen tiefen Schlaf. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr für ihn und er wußte nicht, wie lange es gedauert hatte, bis er sich auf einem Feldweg wiederfand, der am Waldrand entlang in den Wald hinein führte. Ein seltsames Bild bot sich ihm, als er sich umsah. Die Wiese, die sich rechts neben ihm ausbreitete, war sonnenbeschienen und erstrahlte in den schönsten Farben. Doch der Wald, der daran grenzte, war düster und vernebelt. Da erinnerte sich Tom plötzlich wieder an den Zauberspruch der Hexe: ... Der Nebel des Schattens... und dann fiel ihm auch wieder die Anweisung des Frosches ein: "Gehe am Waldrand entlang, bis du eine breite Steintreppe findest..."

So marschierte er einfach los und blickte suchend immer wieder in den Wald hinein. Und tatsächlich, schon nach ein paar Minuten, entdeckte er die Treppe. Groß und breit lud sie ihn zum hinaufsteigen ein. Er betrat zuversichtlich den Wald und ging direkt auf die Treppe zu. Doch dann veränderte sich blitzschnell das Bild und er fand sich in grauem undurchdringlichem Nebel wieder. Die Treppe war plötzlich so undeutlich, daß er kaum die ersten Stufen erkennen konnte. Er blieb unsicher stehen und tastete sich langsam vor. Er erinnerte sich an die Worte seiner Mutter und rief laut nach seinem Engel: "Mein Engel, ich bitte dich darum, mich sicher durch den Nebel zu führen." Dann blieb er stehen und wartete. Zuerst spürte er eine leichte Gänsehaut aufkommen, eine Berührung - so, als würde ihn etwas einhüllen. Er drehte sich um, aber da war nichts. Und dann lichtete sich der Nebel über der Treppe und im tiefen Vertrauen und Dankbarkeit d arauf, daß dies das Werk seines Engels war, stieg er strahlend die Treppe hinauf.

Kaum hatte Tom die letzte Stufe bewältigt, sah er schon von weitem den Höhleneingang. Wieder lichtete sich der Nebel und Tom konnte zielsicher auf ihn zugehen. Doch als er sich in der Höhle befand, war alles stockdunkel. Er konnte nicht mal mehr die Hand vor Augen sehen. Erschrocken blieb er stehen und lauschte. Ein leises Rascheln war zu hören. Keinen Schritt würde er weitergehen, dachte er sich, ehe er nicht irgendwas sehen würde. "Kobold..." rief er, "Kobold, wo bist du?" Er hörte wieder in die Dunkelheit hinein, aber nichts war zu hören. "Kobold Zappelzeh... der Frosch Ted schickt mich. Bist du da?" Und dann, plötzlich sah er ein Licht. Es war klein und schien ihm aus einer Ecke entgegen. "Wer bist du?" hörte er plötzlich eine leise Stimme aus dem Licht fragen. "Ich bin Tom und will die Waldgeister retten!" sagte Tom und schritt langsam auf das Licht zu.

Im Licht saß ein kleines blaues Männchen und zappelte vergnügt mit seinen Zehen. Es hatte ganz spitze Ohren und trug eine violette große Mütze auf dem Kopf. Seine Augen waren ganz klar und ruhig und es schien sich über den Besuch sehr zu freuen. "Erzähl mir, wie der Wald außieht, Tom." sagte Zappelzeh. Tom betrachtete den kleinen Kobold neugierig. "Verwandelst du dich auch in Stein, wenn du in den Wald gehst?" Der Kobold nickte traurig.

"Es ist ganz dunkel und trübe da. Man kann kaum laufen, so dicht ist der Nebel," erzählte Tom, "aber mein Engel zeigt mir den Weg!" Zappelzeh lächelte. "Engel sind die besten Freunde der Menschen. Sie sind sehr mächtig und eine Hexe kann ihnen nichts anhaben." Erklärte der Kobold. "Ich frage mich, warum die Menschen sich nicht öfter an sie wenden?" Ratlos zuckte er mit den Schultern. "Tun sie das denn nicht?" fragte Tom ungläubig. "Nein. Sie glauben nur an das, was für ihre Augen sichtbar ist und das ist sehr traurig." - "Vielleicht wißen sie ja auch nicht, daß es die Engel gibt." Hakte Tom ein. "Würden sie sich mehr Ruhe gönnen, dann würden sie es wißen. Sie hören zu viel, sie sehen zu viel und sie sagen zu viel!" Zappelzeh seufzte und Tom schwieg.

"Ich werde dir nun sagen, was du tun kannst!" Zappelzeh sah in Toms Augen. "Dieser Nebel, ist der Nebel des Schattens. Schatten entsteht, wenn etwas die Sonne verdeckt. Dieser Nebel liegt auf dem Wald und läßt die Sonne nicht durchscheinen. Solange der Zauber nicht gebrochen ist, wird sich der Nebel nicht auflösen. Allerdings gibt es eine Stelle im Wald, wo sich die Sonne einen Weg in den Wald bahnen konnte. Sie hat sich durch den Nebel gebohrt. Wäre es nicht so, dann wäre es nicht der Nebel des Schattens, sondern der Nebel der Finsternis. Denn wo Schatten ist, da ist auch Licht, verstehst du?" Tom nickte. "Du mußt also diese Stelle finden, und wenn du sie gefunden hast, wirst du auch Feen finden, die dir sagen können, wie sich der Zauber brechen läßt." Tom überlegte. "Ich muß also die Sonne finden." Der Kobold nickte freundlich. "Vertraue deiner inneren Stimme und sie wird dich sicher führen!" To m verstand nun, was er damit meinte und abenteuerlustig machte er sich auf den Weg. "Du wirst es schaffen, Tom!" rief ihm der Kobold hinterher. "Die Sonne wird dein Wegweiser sein!"

Draußen fand sich Tom im Nebel wieder. Undeutlich sah er einen kleinen Bach, der sich durch den Waldboden gegraben hatte. Das Waßer konnte er kaum erkennen, nur das leise Plätschern war zu hören. Es war ungewöhnlich still, nicht mal die Blätter der Bäume bewegten sich. Als würde der Wald schlafen. Tom lief zurück auf den Waldweg, der zwischen der Treppe und dem Höhleneingang tiefer in den Wald führte. Er überlegte sich nun, welche Richtung er einschlagen sollte. Er sah nach links und erkannte, daß der Weg anstieg. über Baumwurzeln führte er auf eine Anhöhe hinauf. Rechts von ihm führte der Weg direkt zum Bach, hinunter zum Waßer. Am Ufer des Bachs befand sich ein alter, mit Moos bewachsener Grenzstein.

Neugierig lief er zu dem Stein und betrachtete ihn eingehend. Er strich mit der Hand über das Moos und spürte, wie weich es war. Dann untersuchte er den Stein und stellte fest, daß Zahlen in den Stein gemeiselt waren.

Er sah eine Eins und daneben noch eine Zahl, die aber kaum zu erkennen war. Das Moos hatte sie fast vollständig zugedeckt. Tom riß etwas von dem Moos ab und rubbelte die Erde, die sich darunter befand, so gut es ging ab. Da entdeckte er eine Neun. Es war die Zahl 19. Tom überlegte. Damit konnte er wenig anfangen. Er sah sich hilflos um und fragte sich, ob es nicht doch beßer wäre, er würde die andere Richtung einschlagen. Der Weg führte schließlich nach oben und oben im Himmel befindet sich die Sonne. Er sah noch mal auf die Zahl und wollte sich schon wieder auf den Rückweg machen, als er über der 9 noch etwas entdeckte.

Da war noch was! Er sah plötzlich, daß sich da noch was unter dem Moos befand. Er kniete sich rasch direkt vor den Stein und rubbelte ein großes Stück Moos über der 9 herunter. Und dann tauchte da ein Zeichen auf. Ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte. Unterhalb des Kreises war ein Kreuz und darüber zwei Geraden, die wie zwei kleine Hörner schräg nach außen verliefen. Was konnte das bedeuten? fragte sich Tom. So ein Zeichen hatte er noch nie gesehen. Eine 19 und darüber dieses Zeichen. In Gedanken versunken zeichnete er mit dem Zeigefinger das Symbol nach, "wenn ich nur wüßte, was das bedeutet..." murmelte er.

"Hey!" hörte er plötzlich eine Piepßtimme. "Du da!" Er sah sich um und bemerkte direkt neben dem Stein in der Erde ein Loch. Darin saß ein Erdhörnchen und starrte ihn neugierig an. "Was machst du da?" Tom guckte es intereßiert an. "Bist du eine Maus?" fragte Tom. "Wie bittää???" quitschte das Erdhörnchen empört. "Sehe ich etwa so aus?" beleidigt rümpfte es sein Näschen. "Naja," erwiderte Tom zögerlich, "du siehst schon irgendwie wie eine Maus aus." - "Quatsch!" widersprach das Erdhörnchen. "Ich bin Felix, das Erdhörnchen! Tststs..." erklärte Felix ärgerlich. "Was machst du hier?" Tom schaute wieder das Zeichen an, das in den Stein gemeiselt war. "Ich versuche herauszufinden, was dieses Zeichen zu bedeuten hat." erklärte Tom.

Das Erdhörnchen sprang aus seinem Loch und hüpfte flink auf den Grenzstein hinauf. "Ach," winkte es gelangweilt ab, "das ist doch das leichteste auf der Welt!" Tom sah ihn erstaunt an. "Du weißt, was es bedeutet?" - "Jepp!" machte Felix zufrieden. "Und was?" fragte Tom erneut. Felix guckte Tom frech an. "Was bekomm ich dafür, wenn ich's dir sage?" Tom griff in die Taschen seiner Latzhose und suchte nach irgendwas, das er dem Erdhörnchen geben könnte. Gewöhnlich hatte er immer irgendwas in der Hosentasche und auch diesmal füllten sich seine Hände mit allerlei Krimskrams. Zwischen ein paar Murmeln, einer Sicherheitsnadel, einem Luftballon und einer kleinen Mundharmonika, befanden sich jede Menge großer und kleiner Cornflakeßtücke. Er bildete mit einer Hand eine Mulde und legte ein paar der Cornflakes hinein. "Wie wäre es damit?" fragte Tom Felix und hielt im die Cornflak es hin.

Felix hüpfte sogleich auf Tom's Hand und schnupperte. Betört von dem Zuckergeruch griff er begierig hinein und knabberte genüßlich an einem der Cornflakes. Rasch hatte er ihn weggeputzt und war schon wieder dabei, Nachschub zu holen. Diesmal langte er tüchtig zu und hüpfte mit seiner Beute zurück in sein Loch. "Hey!" schrie Tom empört, "du wolltest mir doch sagen, was das Zeichen zu bedeuten hat." Felix aber war schon im Loch verschwunden. "Du bist gemein!" schimpfte Tom ihm hinterher. Er wollte noch was hinzufügen, da tauchte Felix schon wieder auf.

"Meine Güte, nun stell dich nicht so an! Ich hab nur meinen Vorrat verstaut." Felix knabberte immer noch an einem der Cornflakes herum. "Das ist das Symbol der Sonnengöttin Sol und die 19 ist die Zahl der siegreichen Sonne. Hier verläuft die Grenze zum Tal der Sonnenfeen." Tom freute sich, denn er wußte nun, daß er sich auf dem richtigen Weg befand. "Die Sonne wird dein Wegweiser sein..." erinnerte er sich an die Worte des Kobolds. Zuversichtlich setzte er seinen Weg, vorbei am Grenzstein, fort. Dankbar winkte er dem Erdhörnchen zu, das ihm noch hinterherrief: "Leider ist von der Sonne grade nicht so viel zu sehen, aber das wird schon wieder..."

Rings um Tom herum war der Wald in undurchdringlichen Nebel gehüllt, doch der Weg vor ihm war klar und hell. Er fühlte sich umsorgt und behütet und er vertraute mit der ganzen Kraft seines Herzens seinem Engel, der ihm stets nahe war. Oft sah er hinauf in das Blätterdach des Waldes, das durch den Nebel kaum noch zu sehen war. Er suchte nach Sonnenstrahlen, doch nicht ein Hauch von Sonne war zu sehen. So lief er immer tiefer in den Wald hinein und hoffte darauf, fündig zu werden.

Doch statt daß es heller werden würde, wurde der Wald dunkler. Manches Mal blickte Tom zurück und spielte mit dem Gedanken umzukehren, obwohl er wußte, daß er auf dem richtigen Weg war. Der Nebel war beängstigend und oft glaubte Tom, daß er in ihm Gesichter wahrnahm. Er schien sich zu verändern, oder war es nur Einbildung? Der Weg vor ihm war deutlich zu sehen, und so konzentrierte sich Tom auf ihn. Er sah auf den Kieselboden und betrachtete die verschiedenen Formen der Steinchen. Und so versunken wie er dabei war, entdeckte er am Rande des Weges, ein Stück entfernt, einen hellen gelben Fleck.

Als er näher kam, stellte er fest, daß dort ein gelber Schmetterling auf einer Blume saß und ganz ruhig verharrte. Er beugte sich zu ihm herunter, um ihn genauer anzuschauen, da hörte er ganz leise ein Flüstern: "Bitte, Menschenkind, tu' mir nichts..." Tom hatte sich mittlerweile schon daran gewöhnt, daß er die Tiere verstehen konnte, deshalb reagierte er sofort auf das Bitten des Schmetterlings: "Hab keine Angst, kleiner Schmetterling, ich will dich nur anschauen." Der Falter bewegte sich immer noch nicht, aber es war wieder sein Flüstern zu hören. "Ich würde so gerne wieder die Sonne sehen, aber ich kann sie nicht finden. So lange fliege ich nun schon durch den Nebel. Ich bin erschöpft, kann nicht mehr fliegen. Wo ist mein Sonnenfeld?" - "Dein Sonnenfeld?" fragte Tom. "Das Feld der tausend Sonnen. Es liegt gleich am Waldesrand, aber ich finde den Weg nicht hinaus." Tom wollte dem armen Schme tterling helfen. "Ich bin auch auf der Suche nach der Sonne. Wenn du willst, nehme ich dich mit." Der Schmetterling flatterte sogleich erfreut mit seinen Flügeln, "das wäre wirklich wunderbar!" Und schon flog er auf Tom's Schulter.

"Wie heißt du, Schmetterling?" fragte Tom, während er weiterlief. "Ich bin Postillony und du?" - "Tom" antwortete Tom und sah von weitem eine Wegkreuzung auf sich zukommen. Der Weg wurde etwas holprig und es sah fast so aus, als würde er bald irgendwo enden. An der Abzweigung führte der Weg links wieder steil nach oben, doch der Weg war breit und gut geschottert. Rechts dagegen verlief der Weg holpriger noch als zuvor und der Nebel verlor sich, je tiefer der Weg in den Wald führte, in ein schwarzes Nichts.

Spontan wäre Tom rechts abgebogen, doch dieses schwarze Loch, das sich da vor ihm auftat, schreckte ihn zurück. Er wußte zwar, daß er den Weg gut sehen würde, aber es machte ihm dennoch Angst. "Wohin sollen wir gehen?" fragte Tom Postillony. "Ich weiß es nicht." antwortete der Falter auf seiner Schulter. "Der Weg ist furchtbar dunkel und der Boden ist so holprig. Gehen wir links hinauf, ist der Weg zwar steil, aber nicht so dunkel und gut zu gehen." - "Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die dunkelste." flüsterte Postillony plötzlich und da war Tom klar, wohin er gehen mußte.

Er bog entschloßen nach rechts ab und lief geradewegs mitten ins Dunkel hinein. Trotz daß ihm der Weg sichtbar gemacht wurde, überschattete ihn der dichte Nebel dennoch in bedrohlichem Maße. Tom sah sich um und sah nichts außer tiefem Schwarz. "Ich glaube, daß wir bald da sein werden." flüsterte der Schmetterling auf seiner Schulter. "Irgendwie hab ich ein gutes Gefühl." Und tatsächlich, kaum waren sie um die Ecke gebogen, wurde der Weg wieder heller. Der Nebel war nicht mehr schwarz, sondern grau geworden. Und je weiter Tom lief, desto heller wurde er.

Dann trat er aus dem Nebel und stand in einem riesigen Rapsfeld, das so hell leuchtete, daß ihm seine Augen weh taten. Tom hielt sich schützend die Hände vor die Augen und betrachtete das leuchtende Gelb. "Oh, sieh doch nur!" Postillony flatterte aufgeregt vor Toms Nase herum. "Wir sind da!" Und schon flog er über das riesige Feld. "Schmetterling, warte!" schrie Tom ihm hinterher. "Ist das das Feld der tausend Sonnen?" Da war nur noch Raps, kein Weg mehr, der ihn hätte weiterführen können. "Wo muß ich denn jetzt langgehen?" rief Tom und suchte auf dem Boden zwischen den Rapspflanzen vergeblich nach einem Weg. Er drehte sich um und wollte schon wieder zurück gehen. Er sah wieder die dichte Nebelwand am Waldrand und den Weg, der hineinführte.

"Warte!" hörte er plötzlich wieder Postillony, der neben seinem Ohr flatterte. Tom wandte sich sofort wieder um: "Postillony, ich suche die Sonne im Wald. Es gibt eine Stelle, wo die Sonne durch den Nebel dringt und die muß ich finden!" - "Ich wollte dir gerade einen Weg zurück in den Wald zeigen." erklärte Postillony. "Komm und folge mir!"

Der Schmetterling flog über das Feld und Tom rannte hinter ihm her. Das Feld war wirklich riesig und es sah tatsächlich aus wie ein Feld voller Sonnen. Die Rapsblüten flimmerten in der Sonne und waren so gelb wie Zitronen. Der Wald grenzte direkt an das Feld und man hätte überall hineinlaufen können. Doch der Falter flog unbeirrt am Waldrand entlang. Erst nach einer ganzen Weile flog er gezielt auf den Wald zu. Und bevor die Nebelwand ihn einhüllen konnte, setzte sich Postillony auf einen Zweig.

Tom war völlig außer Atem, als er ihn erreicht hatte. Keuchend stützte er sich mit seinen Händen auf seinen Knien ab. "Hier führt ein weiterer Weg in den Wald hinein." wisperte der kleine gelbe Schmetterling. "Vielleicht wirst du hier die Sonne finden." Tom sah keinen Weg, nur Nebel. "Danke schön, Postillony, für deine Hilfe!" - Postillony erhob sich wieder in die Lüfte und flatterte davon. "Ich habe zu danken!" hörte Tom ihn noch rufen oder war es nur der Wind?

Langsam trat er wieder in den Nebel ein und suchte mit seinen Augen nach einem Weg. Tatsächlich, da war ein Weg! Zuversichtlich betrat er wieder die Nebellandschaft und folgte ihm erneut. Diesmal war es ein ebener, gerader Kieselweg. Tom fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er die Sonne finden würde. Hätten der Kobold Zappelzeh, Felix, das Erdhörnchen und der Schmetterling Postillony ihm nicht geholfen, hätte er es niemals bis hierhin geschafft.

Plötzlich erhellte sich der Weg blitzartig. Er ging noch ein paar Schritte und da sah er plötzlich diesen Strahl. Sonnenschein! Ja, da war Sonnenschein! Er sah nach oben, ging noch einen Schritt; und dann brach die Sonne durch das Blätterdach. Gleißend hell und majestätisch schön. Tom strahlte über das ganze Gesicht. "Meine Güte," rief er erfreut, "die Sonne!" Er sah nach oben und drehte sich in ihrem Angesicht im Kreis. Er streckte glücklich die Arme aus und lachte. "Die Sonne, die Sonne, die Sonne!" Nun hatte er die Stelle gefunden und er dachte wieder an die Worte des Kobolds "die Sonne wird dein Wegweiser sein". Oh ja, so war es! Er erinnerte sich an das Symbol der Sonnengöttin, an die Zahl der siegreichen Sonne, das Tal der Sonnenfeen und an das Feld der tausend Sonnen.

"Endlich kommst du!" hörte Tom auf einmal von irgendwoher ein sanftes Stimmchen. Er sah sich um und dachte daran, daß sich hier noch Waldgeister befinden müßten. Er folgte den Sonnenstrahlen und suchte am Boden nach Elfen. An einer Stelle, wo die Sonne einen hellen runden Fleck in den bemoosten Waldboden malte, entdeckte er ganz versteckt eine Fee. Sie saß dort auf dem Moos und blickte traurig zur Erde. Ihr Haar war wie goldenes Engelshaar so schön und sie trug einen kleinen Kranz darin, mit weißen Blüten. "Ich bin so froh, daß du mich gefunden hast, kleines Menschenkind." Sie sah zu ihm auf und ihre Augen waren so hell und klar, wie das Blau des Himmels.

"Bist du eine Sonnenfee?" fragte Tom, als er sich ihr vorsichtig näherte. Er befürchtete, daß sie wegfliegen könnte, doch sie flatterte nicht mal mit ihren hauchzarten Flügeln. "Ich kann nicht mehr fliegen!" seufzend starrte sie wieder auf den Boden. "Du brauchst das Feengras, nicht wahr?" Die Fee sah ihn erstaunt an. "Du weißt davon?" Tom nickte. "Ja, der Frosch Ted hat es mir erzählt." Nun betrachtete die Fee ihn aufmerksam. "Was weißt du noch darüber?" Tom setzte sich zu ihr und berichtete: "Ich möchte die Waldgeister befreien. Der Kobold Zappelzeh hat mir gesagt, ich solle die Stelle im Wald finden, wo die Sonne durch den Nebel scheint. Und wenn ich eine Fee gefunden hätte, würde sie mir sagen, wie ich den Zauber brechen kann."

"Für den Zauber brauchst du ein paar Zutaten." Erklärte die Fee. "Und du mußt auch einen Zauberspruch sprechen, während du den Zauber bereitest." Tom lauschte intereßiert. "Du brauchst 7 Dornen von einem Brombeerstrauch und 5 Sonnenblumenkerne." - "Wo kann ich die finden?" fragte Tom sogleich. Brombeeren sah er zuletzt in seinem Garten und Sonnenblumen hatte er bisher nirgendwo gesehen. "Du mußt diesen Weg weitergehen. Irgendwann hört das Tal der Sonnenfeen auf, dann wirst du dich in einem Steingarten befinden, der den Gnomen gehört. Dort wirst du ein Steintor finden, das aus dem Wald hinaus führt, und dahinter befindet sich ein großes Sonnenblumenfeld."

"Was sind Gnome?" fiel ihr Tom ins Wort. Die Fee lächelte, als sie seine Wißbegier bemerkte. "Gnome sind sehr hilfsbereit. Meist kümmern sie sich um die kranken Tiere. Der Steingarten ist so etwas wie ein Krankenhaus für Tiere. Und jetzt, wo alle Gnome verschwunden sind, sind die Tiere des Waldes sehr traurig." Tom stellte sich vor, wie die kranken Tiere nun vergebens auf die Gnome warten und auf Medizin hoffen. "Dann können die Tiere ja gar nicht gesund werden." stellte er fest. "Deswegen mußt du ihnen helfen." erklärte ihm die Fee. "Am Rande des Sonnenblumenfeldes befinden sich viele Hecken. Du wirst dort sicher Brombeerhecken finden." - "Ich muß sofort weiterlaufen!" Tom sprang auf.

"Warte, nicht so schnell!" rief die Fee. "Irgendwo hinter den Hecken befindet sich ein tiefer Graben und dort unten eine Holztür. Dort mußt du reingehen, sonst wirst du das Schloß der Hexe nicht finden." - "Eine Holztür?" Tom sah sie erstaunt an. "Ja, sie führt in den Garten des Schloßes. Du mußt hineingehen und nach einem Brunnen suchen. Du brauchst das Waßer, um den Zauber zubereiten zu können. Wenn du die Dornen und die Sonnenblumenkerne in dieses Waßer geworfen hast, mußt du den Zauber außprechen. Dann wird sich der Nebel auflösen und die Waldgeister werden von dem Zauber befreit sein." - "Wie heißt der Zauberspruch?" fragte Tom und die Fee antwortete:

"Kobolde, Gnome, Zwerge und Feen
Ihr werdet nun wieder die Sonne sehen
Vorbei ist der Zauber, schon ist es geschehen
Der Nebel des Schattens kann nicht bestehen
Erlöst seid ihr nun - Wesen aus Stein
Ihr werdet für immer die Waldgeister sein"

Tom murmelte den Spruch ein paar mal vor sich hin, um ihn nicht zu vergeßen. Die Fee seufzte. Tom sah sie fragend an. "Was ist denn?" Die Fee schien von dem Ganzen nicht sonderlich begeistert zu sein. "Was ist los?" fragte er abermals. "Ach, ich wünschte, ich könnte mehr tun, als nur den Zauber zu lösen." Tom verstand kein Wort. "Aber..." hakte er ein, "das reicht doch!" Die Fee schüttelte mit dem Kopf. "Nein. Nein, das reicht eben nicht! Die Hexe wird wiederkommen und einen neuen Zauber außprechen und dann wird alles wieder von vorne anfangen." Jetzt verstand Tom, was sie meinte. Er mußte die Hexe vernichten, sonst hatte das alles keinen Zweck. "Wie kann ich die Hexe loswerden?" fragte Tom. "Das kann ich dir leider nicht sagen, meine Kraft reicht dafür nicht aus."

Tom überlegte und erinnerte sich plötzlich an die Worte des Kobolds "Engel sind die besten Freunde der Menschen. Sie sind sehr mächtig und eine Hexe kann ihnen nichts anhaben.." Tom wandte sich wieder an die Fee: "Was ist mit Engeln? Können sie die Hexe besiegen?" Die Fee sah erstaunt auf. "Engel?" Sie zögerte. "Ja," sagte sie dann, "Engel können dem Menschen viel Kraft geben. Hast du Kontakt zu deinem Engel?" Tom nickte.
"Dann hör' auf ihn und er wird dir sagen, wie du sie besiegen kannst." Ihr Gesicht hellte sich auf. Es schien, als ob sie gerade etwas Erfreuliches erfahren hätte. "Ja, das ist die Lösung, vertraue auf deinen Engel und du wirst es schaffen!"

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von ihm und Tom marschierte los. Schnell hatte er den Steingarten erreicht und nach einigen Fehltritten, entdeckte er von weitem das Steintor. Wie der Ausgang aus einer Höhle sah es aus und zielstrebig kletterte er hinauf. Die Nebelwand löste sich auf und er blickte um sich. Ja, dort unten war das Sonnenblumenfeld! Vorsichtig kletterte er an den Steinen herunter und fand sich inmitten von riesigen Sonnenblumen wieder. Größer als er selbst waren sie und er schaute nach oben, um nach den Kernen in den Blüten zu suchen. Er griff nach einer Sonnenblume und zog sie nach unten. Mit dem Zeigefinger rubbelte er an den Kernen, bis sich ein paar herauslösten. Er ließ sie auf den Boden fallen und zählte sie, während er sie wieder einsammelte.

Fünf waren schnell beisammen und zur Vorsicht steckte er noch ein paar weitere ein - man weiß ja nie! Dann lief er weiter und sah sich suchend zwischen den Pflanzen nach einem Ende des Feldes um. Das war mühselig, denn die großen Blätter der Pflanzen verdeckten die meiste Sicht. So lief er einfach kreuz und quer herum und wartete darauf, einen Anhaltspunkt zu finden. Nun hatte er zumindest schon mal die Kerne. Es fehlten also nur noch die Brombeerdornen und dann mußte er noch die Holztür finden, die zum Garten des Schloßes führt.

Er drückte wieder ein breites Sonnenblumenblatt zur Seite, als er eine Hecke entdeckte. Freudig ließ Tom das Sonnenblumenfeld hinter sich und stellte sich vor die Hecke. Sie war groß und dicht und alle möglichen Sträucher griffen ineinander. Er wußte, wie eine Brombeerhecke außah. Oft hatte er in seinem Gärtchen reife Brombeeren gepflückt und sich dabei an den Dornen gestochen. Er sah an dem Buschwerk entlang, aber er konnte keinen Brombeerhecke entdecken. So lief er einfach weiter zwischen Sonnenblumen und Büschen entlang und prüfte das Buschwerk. Die Büsche wollten nicht enden. Wie eine Mauer zogen sie sich an dem Sonnenblumenfeld entlang.

Nach einer Weile entschloß sich Tom, ein wenig in die Büsche vorzudringen, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Er machte einen großen Schritt hinein und achtete sorgfältig darauf, daß es sich nicht um dorniges Gestrüpp handelte. Tatsächlich konnte er an einer schmalen Stelle die Büsche überblicken und, als ob er es geahnt hätte, befanden sich hinter ihnen die Brombeerhecken. Das einzige Problem war, daß Tom nicht wußte, wie er an sie herankommen sollte. Er lief also wieder an den Hecken entlang in der Hoffnung, daß sie irgendwo aufhören würden und er auf die andere Seite gehen könnte. Doch so weit er auch blicken konnte, die Hecken wollten nicht aufhören. So nahm er allen Mut zusammen, nahm etwas Anlauf und sprang einfach mitten in die Hecken hinein.

Die Zweige waren verschlungen und dicht aneinandergedrängt und seltsamerweise verfing sich Tom mit seinen Beinen nicht darin. Er konnte an den Hecken ganz leicht hinaufklettern, fast so, als wären sie eine Leiter. Und als er oben angelangt war und die Brombeerhecken sah, hüpfte er auf der anderen Seite wieder hinunter - direkt in den Brombeerstrauch!

"Autsch!" schrie Tom und befreite sich mit schmerzverzerrtem Gesicht von einigen dornigen ästen an seiner Hose. Obwohl er sich auch durch diese Hecke quälen mußte, machte er sich keine Gedanken darüber. Erst wollte er die Dornen abreißen, die er für seinen Zauber brauchte. Sieben an der Zahl knickte er von den ästen weg und verstaute sie in seiner Hosentasche. Und während er noch seine Hand in der Tasche hatte, kontrollierte er auch gleich noch, ob sich die Sonnenblumenkerne noch darin befanden. Aber alles war an seinem Platz! "So," sagte Tom zufrieden, "jetzt kann ich ins Schloß gehen!"

Doch das war einfacher gesagt, als getan. Tom stand mitten in einem Brombeerstrauch. Alles war voller Dornen und die äste so verflixt ineinandergewachsen, daß er nicht wußte, wie er sich daraus befreien sollte. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um sich ein wenig umzusehen oder um eine geeignete Stelle zu finden, in die er treten konnte. "Warum so kompliziert, wenn es auch einfach geht?" Die Stimme kam von unten. Tom erschrak. "Hallo?" suchend sah er sich um. "Hier bin ich!" Tom drückte die obersten Brombeerzweige auseinander und sah auf den Boden. Und dort entdeckte er einen Vogel. Er versuchte, sich zu bücken, aber das war nicht so einfach. Von allen Seiten spürte er die Dornen an seinem Körper. "Komm ganz runter zu mir." forderte der Vogel Tom auf. "Das geht nicht, der Busch ist zu dicht!" - "Wenn du hier unten bist, kommst du ganz leicht voran." Tom versuchte es nochmal und drückte mit aller Kr aft die Zweige von sich. Gleichzeitig bückte er sich ganz runter auf den Boden. "Gut gemacht!" lobte ihn der Vogel.

"Darf ich mich vorstellen?" begrüßte ihn der Vogel. "Ich bin Bero, die Amsel!" - "Und ich bin Tom!" erwiderte Tom und wunderte sich, daß er plötzlich so viel Platz hatte. "Weshalb stehst du mitten in einem Brombeerstrauch?" fragte Bero. "Ich brauche 7 von den Dornen da." Er deutete auf eine Dorne vor ihm. "Wozu?" Bero sah ihn schief an. "Ich will die Waldgeister retten und den Nebel auflösen und für den Zauber brauche ich die Dornen." Bero hüpfte näher zu Tom. "Willst du zum Schloß?" fragte Bero wieder. "Ja." bestätigte Tom. "Hier muß irgendwo eine Holztür sein, die in den Schloßgarten der Hexe führt." Bero hüpfte wieder ein Stück weg. "Ich kenne den Weg zum Schloß. Bleib unten und folge mir, dann führe ich dich hier raus!"

Bero hüpfte mühelos durch das Unterholz und Tom versuchte, es ihm gleichzutun. Doch leider war er nicht so klein, wie die Amsel. Die Dornen spürte er immer noch, wenn es hier unten auch etwas leichter fiel, sich hindurch zu winden. Doch zum Glück war die Hecke nicht allzu groß und schon nach kurzer Zeit befand er sich auf einer Wiese. Er sah zurück und bemerkte, daß sich die Hecke an einem Steilhang befand und er nun unten in einem Graben war. Bero war ein Stück entfernt. "Komm, hier entlang!" piepste er und hüpfte die Wiese entlang. Tom lief ihm hinterher. "Dort hinten ist es schon!" rief Bero. "Siehst du die Tür dort?" Bero breitete seine Flügel aus und flog zu dem Gartentor, das von Bäumen und Sträuchern überschattet wurde. Tatsächlich dort hinten war der Garten.

Die Tür war schon ganz modrig, aber sie ließ sich mühelos öffnen. Tom trat ein und sah sich neugierig um. "Danke, Bero." sagte er zu der Amsel, die noch immer auf dem Gatter saß. "Warte, Tom, ich fliege schnell zum Fenster ihrer Zauberkammer und schaue, ob sie da ist." Mit diesen Worten flog der Vogel sogleich los und Tom sah, wie er sich vor eines der Schloßfenster setzte und hineinspähte. Und schon kam er wieder angeflogen und berichtete: "Sie ist da, Tom, aber sie sitzt in ihrem Lehnstuhl und schläft. Du hast Glück, beeil dich!" Und Tom rannte quer durch den Garten. "Dort die Treppe hoch!" rief Bero ihm hinterher und Tom sprang die Treppe hoch. Und noch ehe er sich versah, stand er vor dem Brunnen.

Bero war auch schon da und saß auf einer Steinfigur. Tom erschrak. "Meine Güte!" Er konnte es kaum glauben. Da waren überall Steinfiguren. Sie verzierten das Schloß. "Da sind sie ja, die Waldgeister!" Tom berührte eine Figur, die auf dem Rand des Brunnens stand. Sie war ganz kalt und glatt. "Beeil dich, Tom!" ermahnte ihn Bero wieder, der aufgeregt mit seinen Flügeln flatterte. Tom griff in seine Hosentasche und nahm die Dornen und die Sonnenblumenkerne heraus. Er zählte sie nach und wollte sie schon in den Brunnen werfen. Doch dann fiel ihm ein, was die Fee gesagt hatte. Nein, er wollte nicht nur den Zauber brechen, er wollte die Hexe vernichten und das würde er nur schaffen, wenn er seinem Engel vertrauen würde. "Mein Engel," sagte er laut, "ich bitte dich darum, mir soviel Kraft zu geben, daß ich die Hexe vernichten kann." Er wartete einen Moment und dann spürte er wieder eine Gänsehaut und das Gefühl, als würde ihn etwas einhüllen. Und dann hörte er Bero.

"Erinnere dich an das, was Joey, der Elf, gesagt hat. Dieselbe Kraft, die Engel haben, hast auch du. Erinnere dich an die Sonne und den Schatten. Die Kraft der Sonne ist so stark, daß sie alles wegfegt, was sich vor sie stellt. Sie hört niemals auf zu scheinen, doch der Schatten verschwindet. Du bist die Sonne und die Hexe ist der Schatten. Glaube ganz fest an deine Kraft, Tom, und die Hexe wird verschwinden." Tom starrte den Vogel an. Woher wußte er das alles? Das war doch nicht Bero, der das sagte. Er dachte an die Worte von Joey "Wir sind Energiewesen, Tom, auch du! Wenn du schläfst, verläßt deine Seele deinen Körper und reist dorthin, wo sie sich entspannen kann." Und dann tauchte der Satz auf "Geh den Weg im Schlaf!" Ja, er erinnerte sich wieder an alles. Es war ein Traum. Er befand sich in einem Traum. Er schlief, jetzt - in diesem Moment! Toms Herz pochte wild vor Aufregung. Gedankenverloren sah er die Zutaten für den Zauber i n seiner Hand an.

Plötzlich hörte er ein Donnergrollen. Ein eisiger Lufthauch fegte über ihn hinweg und als er nach oben sah, entdeckte er, wie die Hexe aus dem Fenster ihres Schloßes geflogen kam. Tom erschrak zu Tode. "Schnell, Tom!" Bero flog um ihn herum. "Bereite den Zauber!" Tom warf die Zutaten in das Waßer des Brunnens und rief laut den Zauber:

"Kobolde, Gnome, Zwerge und Feen
Ihr werdet nun wieder die Sonne sehen
Vorbei ist der Zauber, schon ist es geschehen
Der Nebel des Schattens kann nicht bestehen
Erlöst seid ihr nun - Wesen aus Stein
Ihr werdet für immer die Waldgeister sein!"

Die Hexe flog über ihm und fluchte: "Mißgeburt, das wird dir nicht viel nützen!" Das Waßer fing an, sich zu bewegen. In Wellen schwappte es über den Brunnenrand und dann stieg Nebel auf. Und gleichzeitig in diesem Nebel veränderten die Steinfiguren ihre Form. Es war, als würde der Stein von ihnen abbröckeln. Farben kamen zum Vorschein und Leben trat in die Figuren ein. Tom sah, wie Zwerge, Gnome, Feen, Elfen und Kobolde von den Mauern hüpften oder davonflogen. "Ich werde sie mit einem neuen, stärkeren Zauber belegen und den ganzen Wald beherrschen. Alle Naturgeister werden sterben!" rief die Hexe drohend aus. "Du wirst nicht viel daran ändern können, Mensch!" zeterte sie. Tom sah zu ihr hinauf, er sah hinter ihr, wie sich der Nebel über dem Wald langsam lichtete und die Sonne wieder all ihre Strahlen hineinschicken konnte. Die Sonne hatte den Schatten besiegt!

Tom lächelte. Jetzt wußte er, was er tun mußte. Er stieg auf den Brunnenrand. Er schloß die Augen. Er dachte an seine Kraft. Er vertraute auf seinen Engel und er vertraute auf sich selbst. Er war die Sonne, stark und mächtig! In diesem festen Vertrauen sprang er in den Brunnen. Und im selben Moment, als er mit dem Waßer in Berührung kam, fing es an zu brodeln. In Windeseile verdampfte es. Heißer Nebel stieg auf und bildete eine riesige Wolke, die so schwer und voller Waßer war, daß es sofort anfing, in Strömen zu regnen. Tom lachte von Herzen. Er lachte und lachte. Er streckte die Arme von sich und drehte sich im Brunnen. Er hüpfte vor Freude. Er war sich seiner so sehr bewußt, daß aller Zweifel erloschen war. Er hörte die Hexe schreien, ein schrecklicher, ohrenbetäubender Schrei und dann war nur noch der Regen zu hören. Es plätscherte sanft und ruhig. Tom öffnete die Augen und sah, daß der Regen aufge hört hatte. Die Sonne strahlte und glitzerte in jedem Regentropfen.

Die Hexe war verschwunden und ihr Schloß mit ihr. Tom stand vor einer alten Ruine aus Sandstein. Hinter ihr war ein ausgetrockneter See zu sehen, in dem sich einst das Waßer der Hexe befand.

"Mein Gott, Tom!" rief Bero. "Du hast es geschafft! Du hast die Hexe besiegt!" Tom war außer sich vor Freude. Er sah hinauf und dankte der Sonne für ihre Kraft. "Mein Engel, ich danke dir!" schrie er aus Leibeskräften und rannte quer über die sonnendurchfluteten Wiesen. Er ließ sich glücklich und erschöpft in das Gras fallen und starrte in den Himmel. Und dann beobachtete er, wie sich ein wunderschöner Regenbogen am Himmel bildete. Tom weinte vor Freude und einem Zustand von glückseligem Taumel schlief er ein.

"Tom?" Tom wälzte verschlafen seinen Kopf im Kißen hin und her. Es war noch früh am Morgen und von draußen drang ein wunderschönes Morgenrot ins Zimmer herein. "Wach auf, Tom!" hörte Tom abermals ein leises Stimmchen, und als er seine Augen leicht öffnete, sah er kleine weiße Wesen in der Vase auf seinem Nachtisch sitzen. "Wer seid ihr?" fragte er ungläubig. "Wir sind die Traumfeen und wollen dir danken." Tom setzte sich auf. "Du hast den Wesen aus dem Zwischenreich einen großen Dienst erwiesen." - "Habe ich die Hexe tatsächlich besiegt?" fragte Tom. "Ja und du hast uns damit für immer gerettet!" freuten sich die kleinen Feen. "Im Namen aller Naturgeister möchten wir dir sagen, daß wir dich von Herzen lieb haben und immer für dich da sein werden, wenn du uns brauchst." Tom strahlte. "Erinnere dich immer an deine Kraft, Tom. Denn diese Kraft st eckt in dir, nicht nur wenn du schläfst."

Tom überlegte. "Vielleicht werde ich es eines Tages wieder vergeßen. Was ist, wenn ich irgendwann nicht mehr weiß, wie es geht?" Die Traumfeen lächelten. "Du wirst in deinem Leben vieles vergeßen, aber wenn wir dir sagen, wie diese Kraft heißt, dann kannst du dich daran erinnern. Es ist ganz leicht, nur ein Wort!" erklärten sie. Tom sah sie an und noch während er sie ansah, erinnerte er sich an das Gefühl, das ihn ständig begleitete. Er spürte es, als ihm der Kobold begegnete. Er las es in seinen Augen und auch, als er Ted, Felix, Postillony und Bero traf, war es anwesend. Die Fee verströmte es, ebenso wie die Elfen und ganz besonders sein Engel. Und als er im Brunnen war und die Sonne in sich spürte, wußte er, daß dieses Wort er selbst war.

"Liebe!" sagte Tom dann und die Traumfeen nickten.